Von Andreas Neider
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Die Waldorfpädagogik ist 100 Jahre nach dem Tode ihres Begründers Rudolf Steiner umkämpfter denn je. Der Kampf um ihren Bestand findet aber erstaunlicherweise nicht zwischen ihren offiziellen Vertretern und ihren Gegnern statt. Vielmehr stimmen die offiziellen Vertreter der Waldorfpädagogik gegenwärtig immer mehr mit ihren erklärten Gegnern überein. Hatte etwa der Theologe Helmut Zander seit 2007 immer wieder gefordert, die Waldorfpädagogik müsse sich von den esoterischen Lehren ihres Begründers trennen und sich ausschließlich an heutigen Wissenschaftskriterien orientieren, so kann man heute etwa bei Prof. Jost Schieren genau diese Position wieder finden.
So erklärt Jost Schieren in einem Podcast der neuen Onlineplattform „Waldorf- Perspektiven“[1], die esoterischen Anschauungen Steiners über die Hierarchien, über die Kosmologie und über Wiederverkörperung und Schicksal wären von Steiner bewusst aus der Waldorfpädagogik herausgehalten worden. Diese Inhalte hätten weder im Unterricht noch in der Lehrbildung etwas zu suchen. Vielmehr seien sie reine Privatsache der Unterrichtenden.
Damit erzeugt Schieren einen neuen, den Bestrebungen Steiners diametral entgegengesetzten Dualismus zwischen esoterischen, sich auf das Übersinnliche beziehenden und exoterischen, auf Sinnliches bezogenen Anschauungen. Schieren stellt die Anthroposophie im Verhältnis zur Waldorfpädagogik quasi als eine „Religio duplex“ dar, das heißt als eine esoterische Lehre, gegenüber der die Waldorfpädagogik die exoterische Seite bilde. Die esoterische Lehre sei etwas für Eingeweihte, reine Privatsache, habe aber in der Exoterik, also der Waldorfpädagogik selbst nichts zu suchen.
Damit stellt sich Schieren gegen die Intentionen Steiners, der die Anthroposophie explizit nicht als Geheimlehre, sondern als eine jedem Menschen zugängliche Methode, das Übersinnliche im Sinnlichen wiederzuerkennen, verstanden wissen wollte. Die aus den antiken Mysterien stammende Trennung zwischen einer den Eingeweihten vorbehaltenen esoterischen Geheimlehre und exoterischen, allgemein zugänglichen Darstellungen wollte Steiner von Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit an überwinden.
Thomas Mann lässt im vierten seiner Josephs-Romane den ägyptischen Pharao Echnaton folgenden Satz aussprechen: „Ich darf nicht denken, was ich nicht lehren kann.“ Echnaton wollte nämlich das alte Prinzip der Einweihung, das bestimmte Geheimnisse nur dem Eingeweihten, nicht aber dem Volk zuteilwerden ließ, bewusst hinter sich lassen. In der Neuzeit hat Rudolf Steiner diese Vereinheitlichung alles Wissens wieder aufgegriffen, indem er in seinen Schriften sämtliche von ihm gewonnenen übersinnlichen Einsichten so zur Darstellung brachte, dass sie von jedem denkenden Leser zumindest anfänglich und bei intensiver Beschäftigung nachvollzogen werden können.
Die Pädagogik Rudolf Steiners will die Trennung zwischen sinnlichem und übersinnlichem Erkennen überwinden und zeigen, wie sich das Übersinnliche im Sinnlichen offenbart. Versuche, zwischen sinnlicher und übersinnlicher Erkenntnis alte Gräben wieder aufzureißen, die Rudolf Steiner bereits vor über 100 Jahren überwunden hat, widersprechen den Intentionen ihres Gründers. Mit unserer Zeitschrift versuchen wir daher immer wieder zu zeigen, wie sich Übersinnliches und Sinnliches miteinander verbinden lassen.
Zur Ausbildung eines Waldorfpädagogen gehört daher auch die Steinersche Erkenntnislehre, die besagt, dass unser Erkennen nur durch eine Art von Filter auf das Sinnliche beschränkt ist. Dieser Filter dient zunächst der Ausbildung unseres Ich-Bewusstseins und dem inneren Freiheitsgefühl. Sobald diese aber errungen sind, und das sind sie heute bei jedem gesunden erwachsenen Menschen, kann dieser Bewusstseinsfilter Stück für Stück aufgelöst und damit die Ausblendung des Übersinnlichen überwunden werden. Dadurch wird die reale Präsenz des Übersinnlichen in der sinnlichen Welt für jeden Menschen, der diesen Weg beschreiten will, allmählich immer konkreter erfahrbar. Die anthroposophische Meditation ist einer der Wege, auf denen dieser Bewusstseinsfilter bearbeitet und durchlässig gemacht werden kann. Sie gehört daher auch in die Ausbildung zum Waldorfpädagogen, sofern man Steiners grundlegende Anschauungen nicht über Bord werfen will.[2]
Wer dies dennoch tut, lässt die Waldorfpädagogik zu einer zwar vielleicht akademisch anerkannten, letztlich aber sich von anderen pädagogischen Konzepten nur noch dem Namen nach unterscheidender Erziehungsmethode verkommen. Im einhundertsten Jahr nach Rudolf Steiners Tod geht es daher unserer Auffassung nach vor allem darum, die oben beschriebenen Grundsätze richtig zu verstehen und in der täglichen Praxis übend zu verwirklichen. Alles andere ist entweder nur noch schöner Schein oder bewusste Untergrabung einer spirituell gegründeten Pädagogik.
Dieser Beitrag ist das Editorial der Februar-Ausgabe (02-25) von erWACHSEN&WERDEN.
[1] Im Podcast vom 4.12.2024 https://waldorf-perspektiven.podigee.io/ Ähnliche Anschauungen vertritt in einem Podcast vom 8.10.2024 auch das Bundesvorstands-Mitglied Hans Hutzel.
[2] Der anthroposophische Erkenntnisweg und die übersinnlichen Inhalte bilden daher keinen Unterrichtsgegenstand der Waldorfschulen, wohl aber der Ausbildung zum Waldorflehrer
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