Von Christoph Hueck
Die Waldorfpädagogig wird heute von vielen ihrer sogenannten Vertreter als überholungsbedürftig angesehen. Man ist energisch damit beschäftigt, auf angeblich veraltete Aspekte hinzuweisen, vieles umzubauen und die Waldorfschulen endlich dem modernen Zeitgeist anzupassen. Dabei geht das Bewusstsein um den Kern dieser Pädagogik immer mehr verloren. Deshalb braucht die Erziehungskunst, deren Grundlagen und vielfältige Differenzierungen Rudolf Steiner der Menschheit geschenkt hat, ein Bewusstsein dieses Kerns mehr denn je.
Bevor Rudolf Steiner im Frühherbst 1919 den pädagogischen Grundlagenkurs für die ersten Lehrerinnen und Lehrer der neu gegründeten Waldorfschule in Stuttgart hielt ("Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik"), erklärte er seinen Dornacher Freunden die Mission der neuen Pädagogik. Dort sagte er:
„Man muß mit dem Bewusstsein unterrichten, daß man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat, daß man jedes Kind dahin bringen muß, im Lauf des Lebens den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt in sich zu finden.“[1]
Wie kann man diese Aufforderung verstehen? - Für eine Antwort ist eine weit in die Vergangenheit zurückreichende geistesgeschichtliche Perspektive hilfreich, die Rudolf Steiner in einem Vortrag vom März 1922 entfaltete (aus dem die obige Wandtafelzeichnung stammt), und in die er das Christus-Ereignis von Tod und Auferstehung einbezog:
„Der Mensch empfand dereinst um sich herum die Natur (grün), aber diese Natur überall durchseelt und durchgeistigt (rot). … In späteren Zeiten empfand er … die Möglichkeit, gegenüber der nun entseelten Natur das eigene «Ich bin» wahrzunehmen (gelb). … Das Drama aber wird zur Tatsache: Auf Golgatha erhebt sich das Kreuz. Aber zu gleicher Zeit geht das, was der Mensch ursprünglich verloren hatte, ihm in seinem eigenen Innern auf und strahlt (rot) aus dem eigenen Innern aus: Nicht ich, sondern der Christus in mir.“[2]
Anklänge an das uralte Bewusstsein, in dem die Menschen die Natur noch beseelt und von geistigen Wesen durchdrungen wahrnahmen, kann man in den Mythen alter Kulturen finden. Die Natur wurde als von geistigen Wesen durchdrungen und getragen erlebt und das menschliche Schicksal von Göttern bestimmt. Die Menschen erlebten sich nicht von der Welt getrennt. Zur Zeit der Entstehung des Christentums war dann bereits eine Trennung zwischen dem Erleben der Welt und dem eigenen Ich eingetreten. Damit entwickelte sich auch ein Bewusstsein der Freiheit, allerdings um den Preis der Abtrennung von der Natur und damit der inneren Vereinsamung. Die Natur und das menschliche Leben wurden auf diese Weise auch immer unverständlicher.
Man kann diese geistesgeschichtliche Entwicklung nachvollziehen, wenn man die Entwicklung des individuellen Bewusstseins vom Kindes- zum Erwachsenenalter verfolgt. Kleine Kinder erleben sich noch heute ganz mit ihrer Umwelt verbunden; dann tritt eine immer deutlichere Trennung ein, die mit zunehmendem Freiheitsbewusstsein, aber eben auch oft mit Vereinsamung und Sinnverlust einhergeht.
Sehr viele Menschen leben heute in einer solchen Steigerung dieses von der Natur abgetrennten Bewusstseins, dass sich die psychologischen Folgen der Vereinsamung und des Sinnverlusts unübersehbar deutlich zeigen. Doch hat diese Krise eine tiefe und existentielle Bedeutung.
In dem obigen Zitat wies Rudolf Steiner darauf hin, dass das Geistige, das ursprünglich vom Menschen in der Natur erlebt wurde, in Christus auf der Erde erschien und heute innerlich im Menschen gefunden werden kann. Dieser Gedanke entspricht dem Prolog des Johannes-Evangeliums: Der Logos, der die Natur geschaffen hat, erschien in Christus, auf dass die Menschen ihn in sich aufnehmen konnten.
Wenn man diese Beschreibung wiederum auf die individuelle Entwicklung überträgt, bedeutet das, dass man einen Weg finden kann, auf dem die Trennung von der Natur überwunden wird, wenn man etwas von den Schöpferkräften in sich entdeckt, aus denen „im Urbeginne“ auch die Natur selbst hervorgegangen ist. Und diese Kräfte liegen „im“ Ich. Doch sind sie dort nicht mehr „ich“, sondern der Christus in mir – wie ein Tropfen aus dem Meer der Weltenschöpferkraft.
Man kann diesen tiefen und geistesgeschichtlich umfassenden Gedanken ganz konkret und praktisch verstehen: Wenn ich selbst tätig werde, kreativ und zugleich im Sinne der Anforderungen und Gesetze der Welt, dann überwinde ich die Trennung, die Einsamkeit und den Sinnverlust. Diese neue Verbindung beruht allerdings nicht auf Traditionen oder auf äußeren Vorschriften, sondern auf dem, was ich selbst als das erkenne, was wahr und gut ist. In uns selbst liegt der Quell der Wahrheit und Güte und damit der Quell für ein erfülltes Leben. Das ist die Christus-Botschaft der Anthroposophie und auch der Waldorfpädagogik, die Rudolf Steiner als den „Christus-Impuls“ bezeichnete.
Wie kann man also die Aufforderung Steiners verstehen, dass man „mit dem Bewusstsein unterrichten [muss], daß man jedes Kind dahin bringen muß, im Lauf des Lebens den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt in sich zu finden“?
Sicher nicht im Sinne eines konfessionellen Religionsunterrichts.
Im vorausgehenden Teil jenes Vortrags vom August 1919 schilderte Steiner genauer, was er darunter verstand, den „Christus-Impuls in sich zu finden“: Es ist kein einfaches, sondern ein doppeltes Erlebnis. Es ist die Erfahrung des Scheiterns und gewissermaßen des Todes und die Erfahrung von Wiederauferstehung und neuem Leben.
Solche Erfahrungen machen heute sehr viele Menschen. Sie erleben biographische Krisen, gehen durch seelische, berufliche oder soziale „Todeserfahrungen“. Dann kommt es darauf an, dass man nicht verzweifelt, nicht in verhärteten Mustern, Gefühlen und Gedanken stecken bleibt, sich nicht betäubt, nicht dauerhaft in Depression oder im Alkohol versinkt. Es kommt darauf an, ob der Mensch in sich neue Kräfte finden kann, die ihn in seinem Leben innerlich und äußerlich weiterkommen lassen.
Wenn man Kinder und Jugendliche so erziehen soll, dass sie „im Lauf ihres Lebens“ einen solchen Impuls der Wiederauferstehung in sich finden können, dann bedeutet das, den jungen Menschen so viele innere Kräfte, d.h. leibliche und seelische Ressourcen zu vermitteln, dass sie später in ihrem Leben, wenn sie ein solches Scheitern, ein seelisches Sterben erfahren, diese Ressourcen zur Verfügung haben, um aus sich selbst heraus einen neuen Lebensimpuls, eine innere Wiederauferstehung zu finden. Und wem diese Wiederauferstehung aus eigener innerer Kraft gelingt, der hat etwas Unzerstörbares in sich entdeckt, das ihm von da an nicht mehr genommen werden kann.
Es ist ein tiefes Geheimnis des Menschseins, dass dieses Unzerstörbare, unser innerstes Ich, das mit Wahrheit und Güte verbunden ist, gar nicht von uns selbst stammt, sondern von Christus, und doch nur aus eigenster innerer Kraft gefunden werden kann. Die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, kann viel dazu beitragen, dass sie später einmal diesen Impuls der Freiheit und Weltverbindung in sich aufwecken können.
[1] Rudolf Steiner: Die Erziehungsfrage als soziale Frage. GA 296, 16.08.1919, Dornach 1991, S. 94.
[2] Rudolf Steiner: Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. GA 211, 25.03.1922, Dornach 1986, S. 58–59.
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