ÜBER DIE GEFÄHRDETE ZUKUNFT DER WALDORFPÄDAGOGIK
ZUM ERSCHEINEN EINER BROSCHÜRE DES BUNDES DER FREIEN WALDORFSCHULEN ZUM THEMA „BEZIEHUNGSKUNST“
Das Vertrauen, dass sich die Aufgaben, die sich heute der Pädagogik stellen, mit Hilfe der Menschenkunde Rudolf Steiners verstehen und hilfreich angehen lassen, hat abgenommen. Der Griff zu „moderneren“ Anschauungen liegt nahe, ist bequemer. Die neue Broschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen „Beziehungskunst – Menschlichkeit, Identität und Sexualpädagogik in der Waldorfschule“(1) ist ein bezeichnendes, zugleich erschreckendes Beispiel.
„Beziehungskunst feiert die Vielfalt“, proklamiert der Initiator der Publikation, Sven Saar im Vorwort. Die sechzigseitige Broschüre ist für Lehrer- und Elternhand bestimmt. Sie mündet zuletzt in das Konzept einer „vielfaltsoffenen Schule“. Gibt man den Begriff „feiert die Vielfalt“ bei google ein, so landet man bei unzähligen Ankündigungen von LGBT-Love-Paraden in europäischen Städten. Berlin feiert die Vielfalt, München feiert die Vielfalt, Düsseldorf, Basel, Zürich feiern die Vielfalt. Gibt man den Begriff „vielfaltsoffene Schule“ ein, so wird man an ebenso zahlreiche Projekte von lokalen und überregionalen LGBT-Gruppen verwiesen, die unter dem Stichwort „Schule der Vielfalt“weitere assoziierte Schulen suchen.
Immer wieder finden sich dort Hinweise auf LGBT – Unterrichtsmaterialien. Bücher, Videos und Geschichten mit gendergerechten Bildern und gendergerechter Sprache für alle Klassenstufen. Solche Geschichten selbst zu schreiben oder bestehende Märchen, Erzählungen gendergerecht umzuschreiben ist der Wunsch der Broschüre.
Aber will der Bund der Freien Waldorfschulen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer wirklich in diese Richtung weisen? Ist der Bund sich darüber im Klaren, dass er dabei wichtige Quellen der eigenen Pädagogik preisgibt? Die Berechtigung dieser drängenden Frage soll im Folgenden deutlich gemacht werden:
Auf der dritten Seite des letzten Kapitels der Broschüre Beziehungskunst1 findet man eine ganzseitige Zeichnung mit ausführlichem Glossar (siehe unten). Unverkennbar liegt der Zeichnung die bekannte Figur von Jack Killerman (USA, 2011) zugrunde. Es ist das Lebkuchenmännchen, mit dem die Genderbewegung seit vielen Jahren den Unterschied zwischen sexueller Identität, anatomischem Geschlecht, Geschlechtsausdruck und sexueller Orientierung erklärt.
Millionenfach gedruckt will jemand mit diesem merkwürdigen Schema der Menschheit ein neues Menschenbild vermitteln, ein Menschenbild, das einfach und eingängig (dabei wohlschmeckend) die Diversität aller geschlechtlichen Konstitutionen erklärt. Doch niemand erkennt, dass es den Blick auf die geistige Individualität verstellt.
Sophia Klipstein, Mitautorin der Broschüre „Beziehungskunst“, hat dieses Bild für die Waldorfschulen in gewohnter Buntstiftästhetik adaptiert. Herausgekommen ist ein Hybrid von Lebkuchenmann und Proportionszeichnung Leonardo da Vincis. Vom geistigen Wesen und seinem Eingegliedertsein in den Kosmos ist nichts mehr geblieben.
Wie spricht Rudolf Steiner über das Werden eines menschlichen Leibes und die Entstehung der Sexualität?
Der Inkarnationsprozess einer Individualität wurde von Rudolf Steiner wieder und wieder detailliert beschrieben und zur Grundlage der „Allgemeinen Menschenkunde“(2) gemacht. Der Ursprung des Leibes liegt ausgebreitet im kosmischen Umkreis. Die Gliedmaßen erscheinen wie Einstrahlungen. In der Eingliederung der Gliedmaßen in den noch halb offenen Brust-Rumpfbereich entstehen Sprach- und Sexualorgane (10. Vortrag). Im 14. Vortrag dieses Kurses behandelt Rudolf Steiner wichtige Kernpunkte der Sexualerkenntnis und weist zugleich auf Bedingungen der Aufklärungsarbeit hin. Man lese hier nach.
Das von ihm damals gezeichnete Schema ist ein Schlüssel zum Verständnis des geistig-seelisch-leiblichen Menschen aus seinem kosmischen Ursprung heraus.
Soll nun dieser tiefgreifende Erkenntnisansatz in den Waldorfschulen tatsächlich durch den LGBT-Lebkuchenmann und seine um entscheidende Dimensionen ärmere Perspektive ersetzt werden? Wer will so etwas und warum?
Ein gefährliches Projekt
In der Broschüre Beziehungskunst wird immer wieder über die Individualität des Menschen gesprochen, der man einfühlsam und achtsam begegnen will. Sucht man aber nach konkreten Hinweisen darauf, wie diese Individualität sich zeigt, wo sie eventuell verletzlich ist, so wird man zuletzt immer auf die Sexualität verwiesen, auf den Spielraum der eigenen Geschlechtsgestaltung und der freien Geschlechtsorientierung. In der persönlich erstrebten Mischung der Geschlechtsfaktoren findet die moderne Identitätsbildung statt, so die Botschaft der Broschüre. Dabei werden das biologische Geschlecht, die Geschlechtsorientierung und der Geschlechtsausdruck als frei wählbar erachtet. Die medizinische Forschung und Technik haben es möglich gemacht, diesen neuen Freiheitsbegriff als Menschenrecht zu postulieren.
Das Primat des Selbstentwurfs betont scheinbar die geistige Individualität, lenkt aber den Blick immerzu auf das Geschlecht. So sind auf facebook 36 Möglichkeiten auf der Geschlechterskala angeboten, um die eigene Identität zu beschreiben.
Eingebunden ist dieser geforderte Bewustseinsumbruch in eine Stimmung der schöngeredeten Beliebigkeit, die Sven Saar immer wieder mit einem Zitat beschreibt: „In a world, where you can be everything, be kind.“
Wie konnte es geschehen, dass in Waldorfkreisen die Blickrichtung der Menschenkunde Rudolf Steiners solch einer flachen, pädagogisch und philosophisch nicht haltbaren Perspektive geopfert wird?
Die Gerichtetheit der Seele als vorgeburtliche Erbschaft
In seinem Buch „Die Geschlechtlichkeit des Menschen“ hat Stefan Leber(3) aus dem umfangreichen Werk Rudolf Steiners Grundlagen zum tieferen Verständnis der menschlichen Sexualität herausgearbeitet. Die „Gerichtetheit der Seele“, erscheint in diesem Zusammenhang als ein wichtigster Begriff Rudolf Steiners. In ihr liegt eine aus dem Vorgeburtlichen stammende Kraft, die der Entwicklung in Kindheit und Jugend, ja in der ganzen Biographie eine Richtung gibt. Dies bezieht sich auf die Gestaltung von Beziehungen von Mensch und Welt (Weltinteresse) und von Mensch zu Mensch (Beziehungsgestaltung).
Es gibt seit 15 Jahren eine Darstellung der kindlichen Entwicklung, die diesen Inkarnationsvorgang von der Geburt bis zum Ende der Schulzeit in Bildern und mit reichem Text schildert. Sie rechnet mit diesen Richtkräften der Entwicklung.
Es ist dem Autor dieses verbreiteten Entwicklungsbildes unfassbar, dass die Autorinnen der Broschüre „Beziehungskunst“ diese Darstellung ungefragt (!) aufgreifen(4) und sie, als Hintergrundfolie für eine zutiefst beschämende Darstellung ihrer Vorstellung von einer gesunden Entwicklung der Beziehungsfähigkeit nutzen: Sie zeigt menstruierende, onanierende Jugendliche und solche, die sexuelle Stellungen zusammen „ausprobieren“.
Nicht nur diese Darstellung (Broschüre S. 30/31) ist ein Schlag gegen die Kräfte des Idealischen, die immer einer gesunden Beziehungsentwicklung zugrunde liegen. Es ist ein Missbrauch der Kinder und Jugendlichen, denen es fernliegt, in ihrem Lebensabschnitt Beziehungen (Plural!) einzugehen, um in denselben Sexualität auszuprobieren (!), und deren Anliegen es nicht ist, „dass mehr über den Umgang miteinander beim Liebemachen gesprochen wird“, wie es am Ende der Broschüre Schülern in den Mund gelegt wird.
Wie und wo kann die Waldorfpädagogik überleben?
Die vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebene Schrift „Beziehungskunst“ zeigt, wie ungewiss und gefährdet die Zukunft der Waldorfschulen ist. Das Studium der Menschenkunde bleibt Bedingung für ihr Gedeihen. Forschungsfragen bezüglich der transidenten Kinder, mit denen wir immer mehr konfrontiert sind, müssen aus dem Geist der Menschenkunde angegangen werden. Sie wurden exemplarisch in einem jüngst publizierten Beitrag des belgischen Arztes und langjährigen Schularztes, Dr. med. Luc Vandecasteele, für den Bereich der Medizin so formuliert: „Für eine geisteswissenschaftlich erweiterte Medizin ergeben sich aus meiner Sicht wichtige Fragen: Wie sind die Varianten in der sexuellen Orientierung und in der Geschlechtsidentität zu verstehen, im Lichte der verschiedenen Wesensglieder mit ihrer gegensätzlichen geschlechtlichen Prägung? Wie verhalten sich diese Varianten zu dem Grad, mit dem man mit Astralleib und Ich im physischen bzw. Ätherleib inkarniert ist? Welche Rolle spielen in diesem Inkarnationsprozess die heutige Lebensweise und Medienkultur?Welche sonstigen Gründe kann es geben? Welche Begleitung kann man ermöglichen, ohne Schädigungen hervorzurufen?“(5)
In grosser Betroffenheit möchte ich fragen: Wie finden sich die Menschen, die diese und ähnliche Forschungsfragen aus der Tiefe der Menschenkunde heraus noch verstehen - oder als junge Kolleginnen und Kollegen wieder verstehen? Und wo ist es noch möglich eine durch Studium und Forschung vertiefte pädagogische Arbeit gerade in der Zeit herausfordernder Widerstände aufrecht zu erhalten? Es sind Überlebensfragen der Waldorfpädagogik.
Literatur
1 Die Broschüre «Beziehungskunst» des Bundes der Freien Waldorfschulen ist im Internet zu finden
https://www.waldorfschule.de/fileadmin/downloads/Blickpunkte_Reader/beziehungskunst_Web_2024_web.pdf
2 Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293, Dornach
3 Stefan Leber, Geschlechtlichkeit und Erziehungsauftrag: Ziele u. Grenzen d. Geschlechtserziehung. Menschenkunde und Erziehung (39), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1981
4 Und dazu auch noch explizit mit seinem Namen verbunden! (Anm. d. Red.)
5 Merkurstab 4/2023, Zeitschrift für anthroposophische Medizin)
Christian Breme, Studium der Architektur, Bildhauerei und Pädagogik. 35 Jahre Waldorflehrer. Heute Dozent an verschiedenen Hochschulen, zu Themen der plastisch erarbeiteten Embyrologie und der Beziehungskunde. Autor im Ikaros Verlag Basel.
Website: www.ikaros-verlag.ch
Der Beitrag erschien in erWACHSEN&WERDEN 06/24, Juni 2024
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